Forschungsnetzwerk: Wie kann islamistische Radikalisierung verhindert werden?
Artikel von Heike Schmoll / Faz
Zwei festgenommene mutmaßliche Hamas-Mitglieder im Dezember 2023 in Karlsruhe (Symbolbild) © dpa
Um deutliche Worte ist der geschäftsführende Bundesbildungsminister Cem Özdemir (Grüne) nicht verlegen. Er findet den Umgang der Politik und Öffentlichkeit mit Islamismus unerträglich naiv. Das machte er bei der Vorstellung der Ergebnisse des Forschungsnetzwerks zu Islamismus deutlich, das vom Bundesbildungsministerium in den vergangenen fünf Jahren mit 15 Millionen Euro gefördert wurde. Islamisten verachteten das Wertefundament der Demokratie und die westliche Lebensweise, sagte er.
Islamistischer Extremismus bedrohe auch die Muslime selbst, weil diese unter Generalverdacht gerieten. „Wer pauschal über Muslime spricht, der betreibt das Geschäft der Fundamentalisten.“ Es gelte, zu differenzieren. Es sei in Deutschland nicht strafbar, Anhänger des türkischen Präsidenten Erdoğan zu sein, allerdings müsse es doch verwundern, dass die Liebe dann nicht so weit reiche, dass hier wohnende Türken auch in der Türkei leben wollten. Es mache ihm große Sorge, dass sich immer jüngere Menschen islamistisch radikalisierten, sagte Özdemir.
Der geschäftsführende Bundesbildungsminister Cem Özdemir (Grüne) im Dezember in Reutlingen © dpa
Das Forschungsnetzwerk zu Islamismus in Deutschland untersucht in zwölf Projekten seit 2020 Ursachen, Erscheinungsformen und Auswirkungen von Islamismus und Radikalisierung in Deutschland. Mit einer neuen, abermals mit 15 Millionen Euro dotierten Förderlinie für die kommenden fünf Jahre soll vor allem erforscht werden, wie sich die Radikalisierung im Internet in Deutschland und Europa, aber auch transnational vollzieht und wie man dagegen vorgehen kann.
Der am Forschungsverbund beteiligte Londoner Terrorismusforscher Peter R. Neumann vom King’s College sagte bei der Vorstellung der Ergebnisse, der Überfall der Hamas auf Israel habe international zu einer „Riesenmobilisierung“ für Islamisten geführt. Er sprach von einer „islamistischen Terrorwelle“ und einer enormen Zunahme von islamistischen Anschlägen auch und gerade in Deutschland.
Der Extremismusforscher Julian Junk von der Hessischen Hochschule für öffentliches Management und Sicherheit, der am ergänzend geförderten Transfervorhaben RADIS beteiligt ist, sagte: „Wir sehen häufig eine Vermischung von Fragen der Sicherheit, Integration und Prävention in gesellschaftlichen Debatten.“ Das Forschungsnetzwerk versuche, solchen komplexen Zusammenhängen gerecht zu werden.
Die Forscher empfehlen in einem Sammelband mit den Ergebnissen der ersten Förderlinie eine Vernetzung von Wissensbeständen über die Disziplinen hinweg sowie zwischen Wissenschaft und Fachpraxis. Staatliche und zivilgesellschaftliche Akteure müssten zusammenarbeiten. Pauschale Vorurteile, Diskriminierung, Ausgrenzung und traumatisierende Fluchterfahrungen seien eng mit Radikalisierung verbunden.
Demokratie- und Toleranztrainings ausbauen
Wirksame Präventionsstrategien setzten an Orten an, wo Menschen zusammenkämen: Schulen, Jugendgruppen, Arbeitsplätzen, Universitäten sowie sozialen Medien. Aufsuchende Prävention und sozialpädagogische Arbeit erreichten Individuen direkt in ihrem Lebensumfeld. Demokratie- und Toleranztrainings sollten ausgebaut werden, um Radikalisierung vorzubeugen und Stigmatisierung zu vermeiden. „Denn immer mehr junge Menschen wachsen in demokratiedistanzierten oder extremistischen Milieus auf“, stellen die Forscher fest. Prävention müsse lokal gut vernetzte und digitale Angebote schaffen. Jugendhilfe, Schulen und Vereine spielten dabei eine zentrale Rolle.
Das Forschungsnetzwerk hält intensive politische und soziale Bildung für die Grundlage wirksamer Prävention. Schulbuchtexte und Unterrichtsmaterialien, aber auch der Dialog mit Vertretern anderer Religionen seien ebenso wichtig wie ein innermuslimischer Diskurs, der die Vielfalt islamischer Gemeinschaften anerkennt.
Lehrer und pädagogische Fachkräfte müssten darauf vorbereitet werden, Strategien zu entwickeln, die sich stärker an der Lebenswelt junger Menschen orientieren und zur Verständigung führten. Sie brauchen gezielte Fortbildungen zur Radikalisierungsprävention. „Räume für demokratisches Engagement – auch migrantischer und muslimischer Selbstorganisation – sollten erhalten und ausgebaut werden“, heißt es in dem Papier der Forscher.
Themen wie interkulturelle Kompetenz, Antidiskriminierung und Beziehungsarbeit sollten fester Bestandteil der Aus- und Weiterbildung aller pädagogischer und sozialer Fachkräfte sein. Sie müssten Handlungssicherheit im Umgang mit religiösen Konflikten gewinnen und dazu in der Lage sein, Radikalisierungstendenzen frühzeitig zu erkennen und professionell zu begleiten. Beratungsstrukturen für pädagogisches Personal sollten ausgebaut werden.