Antisemitismus: Empathie ist nicht die Lösung, Empathie ist das Problem
Artikel von Lea Streisan/ Faz
Fabian Hinrichs in „ja nichts ist ok“ an der Berliner Volksbühne, Februar 2024 © Thomas Aurin/Volksbühne
Der Historiker Hermann Simon war zum Glück weniger zimperlich. „Na ja, wie soll’s mir jehn“, brummte er mit tiefer Stimme in breitem Berlinerisch und hob achselzuckend die überm Bauch verschränkten Hände. „Schlecht natürlich!“
Simon berichtete von praktischen Problemen nach dem Terrorangriff, Diskussionen in der Synagogengemeinde, ob man zum Gebet zusammenkommen sollte (ein jüdischer Gottesdienst kann erst beginnen, wenn zehn religionsmündige Männer anwesend sind) am Freitag, dem 13. Oktober 2023, den die Hamas zum „Tag der Rache“ gegen alle Juden weltweit ausgerufen hatte. „Viele von uns sind ja nicht mehr die Jüngsten“, erklärte Simon, „wenn da einer käme, wir könnten nicht mal wegrennen.“ Über Gefühle hätten sie nicht geredet. Wozu auch? Ging es doch allen gleich schlecht.
Die Autorin Lea Streisand © Ullstein
In Emotionen überlappen sich das Biologische, das Psychologische und das Soziologische aufs Engste“, schreibt die Soziologin Eva Illouz. „Sie verlängern gewissermaßen den Arm der Gesellschaft im Selbst.“ Wie wir etwas erleben, hängt davon ab, wie alt wir sind, welchen Geschlechts, wo wir herkommen und wie wir uns generell in der Welt verorten.
Gefühle sind Vehikel des Narrativen, sowohl im Vorgang des Erinnerns als auch bei der Weitergabe in Geschichten, Kolumnen, Reels und Postings. Hypersensibilität ist praktisch, wenn man Geschichten erzählen möchte, aber äußerst lästig, wenn man als Mutter eines Grundschulkindes in einer Großstadt lebt und bei jedem Autohupen vor Schreck vom Fahrrad fällt. Oder wenn man versucht, gesellschaftliche Veränderungen irgendwie objektiv zu bewerten.
Denn Gefühle sind keine Fakten. Sie bedürfen entweder der analytischen Einordnung, oder man versucht, durch Mittel der Komik in Distanz zu ihnen zu treten wie die französische Rabbinerin Delphine Horvilleur.
„Oy a brokh“, antwortet sie in ihrem Buch „Wie geht’s? – Miteinander sprechen nach dem 7. Oktober“. Es ist ein jiddischer Ausruf, eine Variante von „Oy vey!“, was von „Ach, du Kacke!“ bis „Nein, so was Schönes!“ fast alles bedeuten kann. Darin mischen sich „auf paradoxe Weise Humor und Verzweiflung, das Bewusstsein der Tragödie und eine bestimmte Art, sich über sie lustig zu machen“.
Verzweiflung ist von jeher fester Bestandteil der jüdischen Kultur, schon lange vor dem 7. Oktober und dem weltweiten Auflodern des Antisemitismus, der auch mich zurück in die Synagoge trieb, die ich zuletzt als Kind mit meiner Mutter zusammen besucht hatte.
Nach dem Gesetz sind wir keine Juden. Mein Urgroßvater kam als junger Mann nach Berlin, heiratete eine Christin, wollte als deutscher Bürger und Geschäftsmann ein selbstbestimmtes Leben führen. In seinem Nachlass findet sich ein Dokument vom Amtsgericht Charlottenburg. „Der Buchhändler Hugo Streisand hat 15. August 1938 mit Wirkung vom 15. September 1938 den Austritt aus der jüdischen Religionsgemeinschaft erklärt.“ Drei Monate später wurde er trotzdem enteignet. Seine beiden Schwestern wurden deportiert und ermordet wie alle anderen jüdischen Verwandten, die nicht emigrierten. Er überlebte „im Halbverborgenen“, wie er es nannte. Seine Kinder entgingen dem Tod eher durch Zufall. Sie bauten später die DDR mit auf, aufrechte Genossen der ersten Stunde.
Gefühle brauchen Vorlagen
Schuldgefühle hat mein Urgroßvater nie artikuliert. Gefühle brauchen Vorlagen. Wie manche Menschen sich nach La Rochefoucauld nie verliebt hätten, wenn sie nicht von der Liebe hätten sprechen hören, benötigen Beschämte den Diskurs über die Scham, um den Wunsch zu verschwinden als solche zu identifizieren.
Wenn ich heutzutage als Zuschauerin eine Veranstaltung besuche, erwarte ich im Stillen immer, dass jemand kommt, mir auf die Schulter tippt und raunt: „Verzeihung, Sie sind hier falsch. Verlassen Sie bitte unauffällig den Raum.“ Dasselbe Gefühl habe ich, wenn ich über den Kurfürstendamm laufe, im Supermarkt einkaufe oder auf dem Spielplatz stehe. Ich fühle mich fehl am Platz, exponiert, schräg angeguckt. Ich lebe in der ständigen Angst, erkannt und verurteilt zu werden, als Autorin, als behindert, jüdisch oder nichtjüdisch. Ich bin nie unsichtbar.
Wer sich schämt, möchte „vom Erdboden verschluckt“ werden, dem „brennen die Eingeweide“. Scham zu empfinden ist die Hölle auf Erden und kein Zustand, in dem die meisten Menschen mehr Zeit verbringen möchten als unbedingt nötig.
Vor Kurzem war ich Zuschauerin in Hermann Simons Centrum Judaicum bei der Präsentation der neuesten Publikation des Instituts Neue Soziale Plastik. Es ging um Antisemitismus in der DDR und heute. Auf dem Podium saßen die Theaterkritikerin Esther Slevogt, der Autor und Russland-Experte Boris Schumatsky und die Autorin Juliette Brungs.
Ich fühlte mich einigermaßen sicher. Die Security am Eingang hatte mir offiziell Zugang gewährt, ich hatte an dem Heft mitgeschrieben.
Wie man dem Antisemitismus begegnen solle, wurde diskutiert, gerade unter jungen Leuten und in der Kunstszene.
Esther Slevogt meinte, der Hass liege schlicht in einem Mangel an Bildung begründet. Die Hochschuldozentin Brungs erklärte, man müsse den jungen Menschen Empathie beibringen.
Es tut mir sehr leid, aber ich muss widersprechen. Empathie hilft überhaupt nicht. Im Gegenteil. Wenn wir allein auf Emotionen setzen, landen wir bei Gleichmacherei und Verdrängungsliteratur à la „Der Junge im gestreiften Pyjama“, das meine westdeutsche Schwiegermutter, eine tiefgläubige Christin, 1940 geboren, deren Vater als Hausmeister eines norddeutschen Rathauses vom Wehrdienst freigestellt wurde, bei der Lektüre zu Tränen rührte und mir erklären ließ, der Krieg sei für alle Seiten schwer gewesen. Der Roman aus dem Jahr 2006 erzählt die völlig an den Haaren herbeigezogene Geschichte eines netten deutschen Jungen, dessen Vater als KZ-Aufseher nach Auschwitz versetzt wird, wo er einfach seinen Beruf ausübt, nämlich Juden vergast.
So weit, so normal. Die Tragik setzt ein, als sich der kindliche Held durch den elektrischen Stacheldrahtzaun hindurch mit einem internierten namenlosen „Jungen im gestreiften Pyjama“ anfreundet und am Ende versehentlich selbst in die Gaskammern geht. Weil er helfen wollte. Die Empathie des Lesers wird von den jüdischen Opfern auf die Täternachkommen gelenkt, welche „unschuldig“ für die Verbrechen ihrer Vorfahren büßen, sobald sie sich mit Juden einlassen. Und natürlich auf den armen KZ-Aufseher, der nur Befehle ausführte und sein Kind verlor.
Sich fühlen, als wäre man dabei gewesen
Der Erfolg des Buches spiegelt sich in statistischen Erhebungen zur deutschen Erinnerungskultur: Ein Drittel aller Deutschen glaubt, ihre Vorfahren hätten im Nationalsozialismus Juden geholfen. Bestimmt haben sie genügend Spielfilme und Romane konsumiert, um sich zu fühlen, als wären sie dabei gewesen. Tatsächlich waren es lediglich 0,3 Prozent der deutschen Bevölkerung, die Juden geholfen haben. Drei von tausend.
Die Literaturwissenschaftlerin Ruth Klüger kritisierte 1992 sogar die Rezeption der authentischen jüdischen Memoirenliteratur zum Holocaust, da diese stets nur die Ausnahme erzählen könne. „Man klammert sich beim Lesen an das Schicksal des Einzelnen, wünscht ihm alles Gute, ist erleichtert, dass er (oder sie) es schafft, zu entkommen“ und laufe nachher Gefahr, die Erleichterung auf die Schoa selbst zu generalisieren.
Das Schlimme, die Schoa, die Auslöschung war jedoch der Normalfall. Doch von dieser Normalität der Vernichtung zeugt heute nur noch die Scham, in der sich niemand aufhalten möchte.
Die Geschichten der Täter
Stattdessen werden die Geschichten der Täter erzählt. Auf Streaming-Plattformen häufen sich reißerische Dokumentationen über „Hitler und die Nazis“. Täter-Psychogramme wie „The Zone of Interest“ gewinnen höchste Auszeichnungen. Die Faszination für die viel beschworene „Banalität des Bösen“ übertrifft das Mitgefühl für die Opfer längst standardmäßig. Opfer sind nur noch als Zeitzeugen interessant. Mit ihren rührend gebrechlichen Körpern werden sie stumm von einem Podium zum nächsten getragen. Analytische Einordnung scheint obsolet. Wir fühlen die Wahrheit.
Aber Gefühle unterscheiden nicht zwischen Fakten und Fiktion. Demagogen werden demokratisch gewählt. Im Deutschen Bundestag belegen sie ein Drittel der Sitze. Die Idee, es gäbe klar zu benennende Schuldige und simple Lösungen, ist attraktiver, als die verwirrende Komplexität realer Probleme anzuerkennen.
Empathie ist die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen. In wen ich mich hineinversetze, ist davon abhängig, wem ich mich zugehörig fühle. Direkt nach dem 7. Oktober, als mein Weltbild, der Antisemitismus sei Geschichte und alle Ausnahmen bestätigten die Regel, endgültig in Scherben ging, „trösteten“ mich enge Freunde mit Sätzen wie „Das glaube ich, dass es dir schlecht geht, aber Israel hätte einfach nie gegründet werden dürfen“ oder „Die haben eben das Geld“ oder „Na ja, die haben Jesus getötet“. Mit „die“ waren stets „die Juden“ gemeint.
Das allgemeine Bedürfnis nach Schamabwehr
Meine Freunde waren nicht empathielos, im Gegenteil; sie spiegelten haargenau das allgemeine Bedürfnis nach Schamabwehr wider, das mich schon als Kind dazu gebracht hatte, mich für meine Herkunft zu entschuldigen, indem ich Sachen sagte wie: „Wenn sie nicht jüdisch gewesen wären, wären sie bestimmt auch Nazis geworden. Sie hatten nur Glück.“
Mitgefühl ist kein Garant für demokratische Ordnung in einer Gegenwart, in der die sozialintegrative Kraft kommunikativen Handelns, von der Habermas einst ausging, sich hauptsächlich in engen digitalen Räumen entfaltet. In Räumen, die mit wenigen Klicks von populistischen Stimmungsmachern infiltriert und mit Falschinformationen gefüttert werden können, in denen Rufmord-Kampagnen gegen antisemitismuskritische Journalisten wie Nicolas Potter zum Alltag gehören, nachdem er im vergangenen Dezember eine Recherche über die Plattform „Red“ angestellt hatte, die mutmaßlich russische Propaganda verbreitet. Jetzt wurde erneut ein Hörsaal der Berliner Humboldt-Universität von Leuten besetzt, die das Existenzrecht Israels infrage stellten, den Holocaust relativierten und den Terror der Hamas als Befreiungskampf glorifizierten. Mittlerweile kursieren Tötungsaufrufe gegen Potter
Innen Mord, außen Gerücht und darüber die Schale der Verharmlosung
Der in der Sowjetunion geborene und aufgewachsene Boris Schumatsky hält angesichts solcher Entwicklungen weder Mitgefühl noch Aufklärung für zielführend im Kampf gegen Antisemitismus. Dies sei ein Krieg der Lügen, den es mit juristischen Mitteln zu bekämpfen gelte. „Der Antisemitismus ist wie eine russische Puppe“, schrieb Schumatsky nach dem 7. Oktober. „Innen Mord, außen Gerücht und darüber noch eine Schale, die Verharmlosung.“
Selbst seriöse Medien setzen heute auf Emotionen wie früher lediglich Boulevardmedien. Die Konkurrenz durch soziale Medien ist mächtig. Wir verbringen die Hälfte des Tages allein vor Bildschirmen, jeder in seiner eigenen Informationsblase. Kommunikation wird schwierig, wenn niemand mehr versteht, worüber die anderen reden, was wiederum dazu führte, dass nach der Corona-Pandemie 52 Prozent der Menschen in Deutschland (63 Prozent in Ostdeutschland) angaben, sich machtlos zu fühlen.
Warum will niemand wissen, was ich denke?“
„Warum fragen immer alle, wie ich mich fühle?“, riefen die Schauspielerinnen und Schauspieler in den Diskurstheaterstücken des Volksbühnenintendanten René Pollesch, der im vergangenen Jahr starb. „Warum will niemand wissen, was ich denke?“
Vermutlich gehen Leute auch demonstrieren und besetzen Hörsäle, weil sie sich unsichtbar fühlen und Sehnsucht nach Gemeinschaft haben und weil Gemeinschaftsgefühle am schnellsten entstehen, wenn man gemeinsame Ziele hat (Weltfrieden) oder gemeinsame Feindbilder (Israel). Was die israelische Regierung gerade macht, ist dabei nebensächlich. Das „Gerücht über die Juden“ hat eine lange Tradition und kann von rechten Netzwerken jederzeit und weitgehend ungestört aktiviert werden.
Wer allein zu Hause sitzt und sich einsam fühlt, sucht online nach Berührendem. Nach Katzenvideos, gut aussehenden Menschen oder empörenden Geschichten. Kaum eine Emotion ist so belebend wie Wut. Wut fühlt sich gut an, Wut macht stark, da traut man sich was, geht raus, trifft sich mit Verbündeten, besetzt einen Hörsaal mit Holocaustleugnern oder macht einem Journalisten das Leben zur Hölle.
„Oy a brokh!“, möchte man rufen mit Delphine Horvilleur oder an Pollesch denken und den Titel seines letzten Stückes, das eine Woche vor seinem Tod in der Berliner Volksbühne Premiere hatte: „Ja nichts ist okay.“