Zur Enquetekommission des Berliner Senats: Warum Berlins Umgang mit Rassismus scheitert

                                          Artikel von Scharjil Khalid

 

 

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                                                Imam Scharjil Khalid © Volkmar Otto

Zwei SPD-Abgeordnete fragten bei der Berliner Senatsinnenverwaltung nach der Zahl politisch motivierter Gewalttaten – als Ergebnis wurde verkündet: In Berlin leben etwa 20-mal so viele Muslime wie Juden. Dennoch registrierte die Polizei weitaus mehr antisemitisch als islamfeindlich motivierte Gewaltdelikte. Auf den ersten Blick klingt das eindeutig. Auf den zweiten Blick offenbart sich jedoch ein gravierendes Problem: die mangelnde Differenzierung, die Verkürzung und die politische Instrumentalisierung dieser Zahlen.

Statt antimuslimischen Rassismus und Antisemitismus gegeneinander aufzuwiegen, sollte man ihre strukturellen Gemeinsamkeiten und Wechselwirkungen anerkennen. Oft treten beide Diskriminierungsformen nicht isoliert, sondern gleichzeitig auf. Der rechtsextremistische Anschlag in Halle am 9. Oktober 2019 verdeutlicht dies auf erschreckende Weise: Der Attentäter Stephan Balliet hatte ursprünglich eine Moschee als Ziel in Betracht gezogen, entschied sich dann jedoch für die Synagoge in Halle, mit der Absicht, dort ein Massaker zu verüben. Diese Tat steht exemplarisch für die Intersektionalität von Antisemitismus und antimuslimischem Rassismus. Für den Täter waren beide Ausdruck desselben ideologischen Hasses.

Doch nicht nur die politische Auswertung, sondern bereits die zugrunde liegenden statistischen Angaben werfen erhebliche Fragen auf. So schwankt die Zahl der in Berlin lebenden Muslime je nach Kontext zwischen 250.000 und 400.000. Wenn es um Repräsentation von Muslimen oder religiöse Feiertage geht, wird gerne die niedrigere Zahl bemüht. Geht es aber um Vergleiche, die Muslime ins negative Licht rücken könnten, wird großzügig die höchste verfügbare Zahl herangezogen. Diese inkonsistente Zahlenpolitik verzerrt die Realität und beeinflusst die öffentliche Wahrnehmung manipulativ.

Zudem sind die strukturellen Voraussetzungen für die Erfassung von Hasskriminalität gegen Muslime deutlich schwächer ausgeprägt als im Bereich des Antisemitismus. Während Antisemitismus seit Jahrzehnten durch etablierte Meldestellen, wissenschaftliche Studien und umfassende Förderstrukturen dokumentiert wird, befindet sich die Erfassung von antimuslimischem Rassismus noch im Aufbau. Einrichtungen wie CLAIM leisten wichtige Arbeit im Kampf gegen antimuslimischen Rassismus, doch es fehlt an Finanzierung, institutioneller Anbindung und öffentlicher Aufmerksamkeit. Hinzu kommt die vielfältige Begriffswahl: Wo die einen von „Islamfeindlichkeit“ sprechen, sagen andere „muslimfeindlich“, „islamophob“ oder „antimuslimischer Rassismus“. Unterschiedliche Institutionen nutzen unterschiedliche Kategorien – mit der Folge, dass Vergleichbarkeit und systematische Erfassung verloren gehen. Eine bundesweit einheitliche Definition wie bei Antisemitismus fehlt.

Auch die polizeiliche Erfassung der Delikte ist alles andere als klar strukturiert. Ein unscharfer Definitionskatalog in der Polizeilichen Kriminalstatistik ist das Hauptproblem, der Begriffe wie „rassistisch“, „ausländerfeindlich“, „fremdenfeindlich“ nicht klar genug voneinander trennt und zudem mit teilweise veralteten und ungenauen Begriffen wie „Islamfeindlich“ arbeitet. Diese ungenaue Kategorisierung erschwert es Polizeikräften, Straftaten bereits zu Beginn der Ermittlungen korrekt einzuordnen. Häufig werden Angriffe gegen Muslime nicht als islamfeindlich, sondern als ausländerfeindlich oder fremdenfeindlich eingestuft – Begriffe, deren Abgrenzung oft selbst diffus ist.

Darüber hinaus ist die Statistik unvollständig: Antimuslimische Tatmotive können in der Polizeilichen Kriminalstatistik nur bis zum 31. Januar des Folgejahres nachgemeldet werden. Erkenntnisse aus späteren Ermittlungen oder Gerichtsverfahren bleiben außen vor. Antimuslimisch motivierte Gewalt wird so strukturell untererfasst.

Deshalb bringen viele Betroffene Vorfälle gar nicht erst zur Anzeige. Sie berichten von Frustration über ausbleibende Konsequenzen und bagatellisierende Haltungen der Behörden. Im Bericht von CLAIM heißt: „Da es an Expertise und an Meldestrukturen fehlt und Betroffene die Vorfälle oft aus Unwissen oder geringem Vertrauen nicht melden, ist von einer gravierenden Dunkelziffer antimuslimischer Vorfälle auszugehen.“

Angesichts all dieser strukturellen Verzerrungen ist die Aussage der beiden SPD-Abgeordneten, für Muslime sei Gewalt „offenbar nicht das oberste Problem“, nicht nur unsensibel, sondern unverantwortlich. Sie reproduzieren damit genau die Ungleichbehandlung, die sie angeblich aufzeigen wollen – und übersehen dabei völlig, warum Gewalt gegen Muslime oft gar nicht erst erfasst oder ernst genommen wird. Genau auf dieser fehlerhaften Grundlage wird Politik gemacht.

Nach dem 7. Oktober 2023 hat im Berliner Abgeordnetenhaus eine Enquetekommission gegen Rassismus und für gesellschaftlichen Zusammenhalt ihre Arbeit aufgenommen. Statt jedoch des Pudels Kern zu erkennen, verliert sich Berlin wieder einmal in einer Zahlendebatte, ohne das eigentliche Problem zu verstehen.

Nach der Veröffentlichung der Zahlen wurde gefragt: Was heißt das für Berlins Politik? Die Antwort der Abgeordneten und ihrer Kommissionen greift – wieder einmal - viel zu kurz. Während man einerseits davon spricht, dass sich der Krieg in Nahost in Berlins Straßen widerspiegelt, blendet die Berliner Politik gleichzeitig den Massenmord in Gaza aus – als gäbe es keinen Zusammenhang. Die politische Debatte bleibt auf innenpolitische Fragen verengt. Falsche Fragen führen zwangsläufig zu falschen Antworten.

Die richtigen Fragen liegen längst auf der Hand – sie werden nur nicht gestellt:

Wie kann es sein, dass alle renommierten Menschenrechtsorganisationen – von Amnesty International bis Human Rights Watch – Israel Kriegsverbrechen und in Teilen sogar Genozid vorwerfen, und Berlin trotzdem von legitimer Selbstverteidigung spricht?

Wie kann Berlin eine Brandmauer gegen rechts propagieren und gleichzeitig mit einer offen ultrarechten Regierung in Israel kooperieren?

Wie kann der Regierende Bürgermeister eine Städtepartnerschaft mit Tel Aviv feiern, während unter dieser Flagge in Gaza die schlimmste humanitäre Katastrophe unserer Zeit stattfindet?

Warum hängt die israelische Flagge vor dem Roten Rathaus, aber keine palästinensische?

Warum wird der israelische Botschafter als moralische Instanz hofiert, während der palästinensische Repräsentant keinerlei Gehör findet?

Wenn Berlin nicht bereit ist, sich diesen Fragen zu stellen, dann ist der Kampf gegen Rassismus nichts als wohlklingende Farce. Töten ist der größte Rassismus und dieser findet momentan im höchsten Ausmaß in Gaza statt – Tag für Tag. Als Muslim musste ich mir oft anhören, ein „Scheiß-Terrorist“ zu sein, der „zurück in sein Land“ gehört. Doch nichts hat mich je so tief erschüttert wie die Bilder ermordeter Kinder in Gaza.

Das ist der Rassismus, über den Berlin schweigt. Erst wenn Berlin über diesen mörderischen Rassismus spricht, den Deutschland mit Waffenlieferungen in Höhe von über 400 Millionen Euro unterstützt, erst dann ist Berlin glaubwürdig. Ansonsten bleibt die Enquetekommission und der Kampf gegen Rassismus reine Symbolpolitik