Brief aus Istanbul: Warum boykottieren die Erdoğan-Gegner Volkswagen?

                                        Artikel von Bülent Mumay/ Faz

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                                            Demonstranten protestieren gegen die Verhaftung des Istanbuler Bürgermeisters. © dpa

Seit Erdoğan seinen aussichtsreichsten Kontrahenten Ekrem Imamoğlu inhaftieren ließ, ist die Türkei auf den Beinen. Der Haftbefehl löste weit größere Proteste aus, als das Palastregime vermutet hatte. Zunächst waren einige Hundert Menschen auf die Straße gegangen, täglich wurden es mehr, mittlerweile sind es Millionen. Nicht von ungefähr waren es überwiegend junge Leute, die die Proteste anstießen und die nun auf Straßen und Plätzen sind. Natürlich lehnen sie sich gegen die Inhaftierung Imamoğlus auf, es gibt aber noch andere Gründe dafür, dass sie demons­trieren, obwohl die Polizei brutal inter­veniert. Erdoğans Coup vom 19. März gegen die Opposition war nur der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.

Bevor ich Ihnen die Gründe für die Empörung der jungen Leute schildere, ein paar Worte zu dem Funken, der die De­monstrationen auslöste. Alles begann am Abend des 18. März damit, dass Imamoğlus Diplom, das er vor 31 Jahren von der Universität Istanbul erhalten hatte, annulliert wurde, um zu verhindern, dass er für die Präsidentschaft kandidiert. Nach seiner Festnahme am nächsten Morgen gingen einige Hundert Studenten dieser Universität aus Protest auf die Straße. Die Polizei erwartete sie mit Schilden und Knüppeln. Mit dem Niederreißen der Barrieren trotz der brutalen Intervention lösten die Studenten eine mächtigere Protestwelle als die Gezi-Proteste 2013 aus. Waren es zunächst Studenten im ganzen Land, beteiligten sich bald auch andere Kreise. Eine Woche lang versammelten sich Hunderttausende vor Imamoğlus Rathaus in Istanbul. Kurz darauf kamen über zwei Millionen Menschen zu einer Kundgebung, die auf einem nur unter Mühen zu erreichenden Platz stattfand

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                                                                                      Bülent Mumay © privat

Warum ist vor allem die Jugend auf der Straße, obwohl Erdoğans autoritäre Regierung doch sämtliche Kreise der Gesellschaft betrifft? Bei einer Umfrage des Non-Profit-Thinktanks Toplum Çalışmaları Enstitüsü (Institut für Sozialforschung) unter jungen Demonstrationsteilnehmern wurden am häufigsten drei Gründe genannt: die Sorge um die Zukunft, die antidemokratischen Maßnahmen der Regierung und dass das politische System nicht auf ihre Forderungen reagiert. Und die Inhaftierung Imamoğlus? Nach ihrer Motivation zur Teilnahme an den Protesten gefragt, rangierte diese Antwort bei den jungen Leuten auf dem letzten Platz. Was nicht bedeutet, dass Imamoğlu bei der Jugend nicht beliebt wäre. Es spricht vielmehr von der Enttäuschung einer Generation, die seit 23 Jahren unter der Regierung Erdoğans aufgewachsen ist, der eine Freiheit nach der anderen genommen wurde und die nicht von einer besseren Zukunft träumen kann.

Der vielbeschworene Volkswillen

Diese Umfrageergebnisse wie auch meine persönlichen Beobachtungen vermitteln Ihnen sicher einen Eindruck von der Situation. Doch nichts, was ich schreibe, könnte eindringlicher sein als die Gefühle des jungen Demonstranten Samet, der bei einer Protestaktion von Polizeigewalt betroffen war und auf die Frage, warum er auf die Straße gegangen sei, folgende Antwort gab: „Was bitte soll das? Was habe ich denn getan? Einen Wohnheimplatz fand ich nicht, mit zwei anderen hause ich in einem Zimmer im Studentenheim. Weil ich mich morgens und abends nur von Pogatschen und Nudeln ernähre, leide ich inzwischen an Verstopfung. Nach meinem Abschluss werde ich einer von etlichen hunderttausend Arbeitslosen sein. Für 18.000 Lira (rund 430 Euro) im Monat arbeite ich von acht Uhr morgens bis acht Uhr abends im Copyshop. Ich mache mir Sorgen, habe Angst um meine Zukunft. Nicht davor, kein Geld zu haben, aber davor, mein ganzes Leben so verbringen zu müssen, gezwungen zu sein, ins Ausland zu gehen und mich dort für ein paar Kurusch als Arbeiter durchzuschlagen. Wenn ich das aber sage, beziehe ich Prügel.“

Polizeiprügel sind nicht der einzige Preis, den Samet und seine Mitstreiter zahlen. Beinahe 2000 Demonstranten wurden festgenommen. Etwa 300 von ihnen kamen in Untersuchungshaft. Und die Regierung ließ ihre Wut nicht nur an der Jugend aus. Auch 14 Journalisten wurden festgenommen, weil sie über die Proteste berichteten, sieben von ihnen mussten in Untersuchungshaft. Ein schwedischer Journalist wurde verhaftet, der Korrespondent der BBC ausgewiesen, und ein Fernsehsender, der über die Proteste berichtet hatte, erhielt ein zehntägiges Sendeverbot. Elon Musks Plattform X (ehemals Twitter) löschte auf Verlangen des Erdoğan-Regimes Hunderte Konten. Allerdings bewirkten diese Maßnahmen des Regimes zur Unterdrückung der Proteste das Ge­genteil, der Aufstand weitete sich noch aus. Stets hielt Erdoğan den Begriff „Volkswillen“ hoch, doch nun machte der Vorstoß, seinen wichtigsten Rivalen über die politisierte Justiz auszuschalten, die ohnehin geschrumpfte Legitimität des Palastregimes zunichte. Einer Umfrage des renommierten Meinungsforschungsunternehmens KONDA zufolge halten 73 Prozent der Bevölkerung in der Türkei die Proteste für berechtigt.

Brandlöschung für 40 Milliarden Dollar

Besonders auffällig ist indes das beschämte Schweigen der Erdoğan-Unterstützer. Bei der geringsten Kritik an der Regierung wetterten bisher stets auch Erdoğan-Anhänger gegen die Opposition. Imamoğlus Inhaftierung hingegen begegnete man in diesen Kreisen mit Schweigen. Das ist so auffällig, dass ein Erdoğan- naher Kolumnist die Parteigänger in ei­nem Artikel fragte: „Warum schweigt ihr? Erklärt euch!“ Nicht bloß Erdoğans Fähigkeit, Zustimmung zu generieren, schwand nach dem Coup vom 19. März. Die Ergebnisse der Umfragen, die zur Verhaftung von Erdoğans Rivalen geführt hatten, wurden im Nachgang nur umso dramatischer für den Palast. In allen Umfragen nach dem 19. März steigerte sich Imamoğlus Vorsprung zu Erdoğan um mindestens zehn Prozent.

In den letzten Jahren waren die Wählerstimmen für Erdoğan vor allem aufgrund der von ihm verursachten Wirtschaftskrise zurückgegangen. Imamoğlu wurde dank der Politik, mit der er sich in Istanbul um Abhilfe der vom Regime geschaffenen Armut bemühte, zum Star der Oppositionsführerin CHP. „In der Türkei bleibt kein Erfolg ungestraft“, lautet ein Spruch, der sich einmal mehr bewahrheitet hat. Imamoğlu musste ins Gefängnis. Doch der Coup vom 19. März erschütterte die Wirtschaft heftig, die Istanbuler Börse brach ein, ausländische Fonds strebten aus der Türkei hinaus. Um den Brand bei den Devisenkursen zu löschen, setzte die Zentralbank ihre Reserven von rund 40 Milliarden Dollar ein.

Etliche Bestellungen bereits storniert

Aus Protest gegen die Verhaftung Imamoğlus rief der CHP-Vorsitzende Özgür Özel zum Boykott auf. Medien und Firmen anderer Branchen, die Erdoğan un­terstützen, wurden auf die Liste für un­befristeten Boykott gesetzt. Der eintägige Konsumgeneralboykott, zu dem Studenten aufriefen und der auch von der CHP mitgetragen wurde, reduzierte die täglichen Ausgaben im Inland um die Hälfte. Angesichts der Auswirkungen des Boykotts auf die schwache Wirtschaft schwang Erdoğan sich zu einer Operation auf, die an die Hexenjagd von Senator McCarthy in den USA der Fünfzigerjahre er­innert. Künstler, Rechtsanwälte, Journalisten, die den Boykott unterstützt hatten, wurden festgenommen, ihre Konten in den sozialen Medien gesperrt. Das staat­liche Fernsehen warf Schauspieler, die sich dem Boykott angeschlossen hatten, aus Serien hinaus. Auch die Website, die für den Boykott aufgestellt worden war, wurde gesperrt.

Auf der Boykottliste, die Erdoğan so erzürnt, stehen nicht nur türkische Unternehmen. Auch die Volkswagen-Gruppe wird mit sämtlichen Marken unter ihrem Dach boykottiert. Denn der Vertrieb von Marken wie VW, Audi oder Škoda in der Türkei liegt in der Hand des Erdoğan nahestehenden Geschäftsmanns Ferit Şahenk. Dieser ist nicht bloß ein Unterstützer der Regierung, auf Wunsch der Regierung verhindert er auch, dass in seinen Fernsehsendern über die landesweiten Proteste berichtet wird. CHP-Chef Özgür Özel forderte, niemand solle Wagen der VW Group kaufen, solange ihr Türkei­vertrieb nicht an andere übergeht. Der deutsche Automobilriese verkaufte im vergangenen Jahr nahezu 200.000 Autos in der Türkei. Sein Marktanteil beläuft sich auf 17 Prozent. Es ist nicht bekannt, ob die aufgrund der chinesischen Konkurrenz eh gebeutelte VW Group etwas un­ternehmen wird, um von der Boykottliste in der Türkei gestrichen zu werden. Özels Aufruf zeitigt jedenfalls Wirkung. Etliche Bestellungen bei VW wurden bereits storniert.

Das Schweigen der Freunde

Wie weit kann Erdoğans Einsperren des „Volkswillens“ die türkischen Konsumenten vom „Volkswagen“ fernhalten? Was wird der Boykott den deutschen Konzern kosten? Beides ist kaum abzuschätzen. Allerdings könnten die Kosten dafür, dass der Westen zuschaut, wie die Türkei sich in ein kleines Russland verwandelt, noch weit höher sein. Ein von Trump sich selbst überlassenes Europa ist zur Verteidigung auf die Türkei angewiesen, die innerhalb der NATO die größte Armee besitzt. Um Erdoğan nicht zu verprellen, kommt je­denfalls zurzeit bis auf die Wiederholung des Klischees, „zutiefst besorgt“ zu sein, kein Wort der Kritik daran, dass das Palastregime die Demokratie begräbt. Gefährdet das zunehmend autoritär regierende Regime in der Türkei nicht die Sicherheit Europas, wie zuvor mit einigen euro­päischen Ländern schon erlebt? Führte das Entstehen eines putinistischen Regimes im Süden Russlands nicht dazu, dass die Lage Europas unsicherer wird?

Selbstverständlich muss Europa das für sich entscheiden. In der Türkei kämpfen jedenfalls Millionen Menschen selbstbestimmt um ihre Demokratie. Nicht vergessen werden sollte ein Punkt, den CHP-Chef Özgür Özel kürzlich wie folgt formulierte: „Wenn das alles vorbei ist, werden der Türkei weniger die Stimmen ihrer Feinde in Erinnerung bleiben als vielmehr das Schweigen ihrer Freunde.“

Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe